Interview Dr. Gabriele Jungnickel, Abteilungsleiterin Beratung, Kinder & Soziale Angebote beim Kölner Studierendenwerk

Kein Chatbot der Welt kann unsere Berater*innen ersetzen

Dr. Gabriele Jungnickel   zieht im Interview ein Zwischenfazit nach Pandemiejahr Nummer zwei.

Interview: Cornelia Gerecke | Text: Michelle Niehenke | Fotos: Martina Goyert

Das Jahr 2021 hielt für die Abteilung Beratung, Kinder & Soziale Angebote (BKSA) viele Herausforderungen bereit. Neben der Corona-Pandemie musste eine vorübergehende Kita-Schließung abgefedert, der Fachkräftemangel im Kita-Bereich ausgeglichen und der erhöhte Bedarf an psychologischen Beratungen bewältigt werden. Keine einfachen Aufgaben, wenn fast das gesamte Team aus dem Homeoffice arbeitet. Im Interview erzählt uns Dr. Gabriele Jungnickel, mit welchen Strategien und Lösungsansätzen sie und ihr Team sich in dieser Ausnahmesituation aufgestellt haben.

Der Wohnturm in Müngersdorf wird saniert und wurde bis März 2022 komplett entmietet. Warum ist ihre Abteilung ebenfalls davon betroffen?

Jungnickel: Wir betreiben die Kita Purzelbaum mit 15 Plätzen für Kinder von eins bis sechs im Parterre des Wohnturms. Da die große Sanierung des Wohnturms in Müngersdorf startet, müssen wir leider unsere Kita vorübergehend schließen. Obwohl die Kita selbst nicht von der Sanierung betroffen ist, wäre die Lärm- und Staubbelastung einfach unzumutbar. Die Schließung war dann leider früher als geplant – Ende des Kita-Jahres im Sommer 2022 – notwendig. Weil viele Eltern frühzeitig neue Kitaplätze hatten und von 15 Kindern nur noch acht hier betreut wurden, haben wir gemeinsam mit der Stadt und dem Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband beschlossen, die Kita bereits Ende 2021 zu schließen.

 

Angesichts der starken Nachfrage nach Kita-Betreuungsplätzen war das wahrscheinlich keine leichte Entscheidung, oder?

Jungnickel: Nein, auf keinen Fall. Aber ein weiterer Betrieb war nicht wirtschaftlich, da die Personalkosten auch bei kleineren Gruppen bestehen bleiben. Wir sind aber von Anfang an mit einem Masterplan gestartet und haben genau überlegt, wen wir wann ins Boot holen und wie wir die Eltern und Kinder bestmöglich unterstützen können. Natürlich waren die Eltern teilweise enttäuscht, aber es gab auch viel Verständnis für die Situation.

 

Und wie sah die Unterstützung konkret aus?

Jungnickel: Wir haben den Eltern zum Beispiel bei der Suche nach neuen Kitaplätzen geholfen. Einige Kinder konnten wir sogar in den anderen Kitas des Werks unterbringen. Unsere Kolleg*innen aus der Kita Purzelbaum konnten alle in den beiden anderen Kitas eingesetzt werden. Damit hatten dann die verbleibenden Kinder direkt wieder vertraute Gesichter in der neuen Umgebung.

 

Kita-Personal wird heute ja überall händeringend gesucht.

Jungnickel: Ja, den Fachkräftemangel haben wir 2021 stark zu spüren bekommen. Das hängt zum einen mit der hohen Belastung während der Corona-Pandemie zusammen, zum anderen mit den begrenzten Kapazitäten der Berufsschulen für die Ausbildung der Pädagog*innen. Es gibt grundsätzlich genug Leute, die den Job machen möchten, aber aufgrund voller Klassen keinen Ausbildungsplatz bekommen. Daneben spielt die höhere Job-Wechselbereitschaft sicherlich auch eine Rolle. Erzieher*innen können sich ihre Stelle aussuchen und wechseln zum Beispiel dorthin, wo sie andere Entwicklungsmöglichkeiten haben, oder in eine Kita, die näher am Wohnort liegt.

„Für uns ist die Face-to-Face-Beratung vor Ort das Mittel der Wahl und auch der Schwerpunkt für die Zukunft. Das ist für die Beziehungsgestaltung besser.“
Dr. Gabriele Jungnickel

Wie kann das Werk und speziell die Abteilung Beratung, Kinder & Soziale Angebote diesem Fachkräftemangel entgegenwirken?

Jungnickel: Wir haben intern intensiv diskutiert, wie wir uns als attraktiver Arbeitgeber positionieren können, und daraufhin zunächst die Stellenausschreibungen überarbeitet. Hier weisen wir jetzt noch stärker auf die Benefits hin, die die Arbeit in den Kitas des Werks bietet. Dazu gehört zum Beispiel eine übertarifliche Zulage, mit der wir uns von der Konkurrenz abheben wollen. Ob diese Maßnahmen greifen werden, ist dann Thema für den Geschäftsbericht 2022.

 

Sie hatten aber nicht nur in den Kitas, sondern auch in der psychosozialen Beratung mit fehlenden Ressourcen zu kämpfen. 

Jungnickel: Genau. Das muss man jedoch differenziert betrachten. Denn durch den Umschwung von der persönlichen Beratung vor Ort zur Beratung auf Distanz während der Pandemie ist für unsere Kolleg*innen erheblicher Mehraufwand entstanden. Angefangen mit der Datenschutzerklärung, die Studierende nicht in zwei Minuten im Wartebereich ausfüllen können, sondern die auf sicherem Weg zu ihnen nach Hause und wieder zu uns zurückgeschickt werden muss. Vor jedem Termin per Telefon oder Videocall musste also geprüft werden, ob die Unterlagen wieder bei uns angekommen sind. Und wir haben gemerkt, dass die Kontakte pro Klient*in gestiegen sind. Normalerweise finden bei uns zwei Drittel aller Beratungen nur im Rahmen von 1-2 Kontakten statt. 2021 ist die Zahl der Beratungsgespräche in der Kategorie „zwei bis vier Beratungen“ aber um 8 Prozent gestiegen, in der Kategorie „mehr als sechs Beratungen“ hat sie sich sogar verdoppelt.

 

Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?

Jungnickel: Meine Hypothese ist, dass die Studierenden gerade mit den digitalen Formaten etwas mehr Zeit brauchen, bis sie mit unseren Berater*innen an die zentralen Themen kommen. Über das Telefon oder den Bildschirm ist es nicht so einfach, Vertrauen so aufzubauen, wie in den Beratungssituationen vor Ort. Trotzdem ist die Videoberatung sehr beliebt. Während wir 2020 nur auf 80 bis 90 Videoberatungen gekommen sind – da mussten wir ja auch zunächst die Voraussetzungen dafür schaffen und uns damit vertraut machen –, waren es 2021 schon 400 bis 450. Die Politik hat schließlich doch noch Mittel für solche Pandemie-bedingten Mehraufwendungen bereitgestellt, mit denen wir einen weiteren Mitarbeiter für psychologische Beratung einstellen konnten.

„Die Pandemie hat uns dahingehend einen Schub gegeben und gezeigt, dass Prozesse, die jahrelang nicht verändert wurden, gerne infrage gestellt und umgestaltet werden können.“
Dr. Gabriele Jungnickel

Planen Sie bei diesen Zahlen die Videoberatung auch über die Pandemie hinaus anzubieten?

Jungnickel: Für uns ist die Face-to-Face-Beratung vor Ort immer noch das Mittel der Wahl und auch der Schwerpunkt für die Zukunft. Das ist für die Beziehungsgestaltung besser, weil wir die Studierenden über so viele Kanäle wie möglich kennenlernen. Dazu gehören die Mimik, die Gestik, wie jemand im Sessel sitzt, sich räuspert, gedanklich abwesend ist, weil er oder sie ständig aus dem Fenster schaut. Entgegen unserer anfänglichen Skepsis haben wir aber festgestellt, dass sich in manchen Situationen die Telefonberatung oder die Videoberatung bewährt haben.

 

Welche Situationen sind das zum Beispiel?

Jungnickel: In der Lernberatung nutzen wir gerne die digitalen Konzepte. Denn dort geht es im Vergleich zur psychologischen Beratung mehr um kompetenzvermittelnde Themen. Viele Angebote in der Lernberatung sind zudem als Kurzberatung konzipiert und können deswegen gut in die digitale Welt übertragen werden – wie der Frühe Vogel. Das ist ein Format, bei dem sich Studierende morgens zwischen 8:00 Uhr und 9:00 Uhr austauschen, um motiviert in den Tag zu starten. Unsere Kollegin Frau Frank hat daraus ein eigenes digitales Modell entwickelt – quasi ein virtuelles morgendliches Briefing, bei dem die Studierenden sich routinemäßig einloggen und im Anschluss ihre To-dos für den Tag festlegen. Für diese Form der Kurzberatung sind digitale Medien perfekt. Das Angebot wird super angenommen und platzt aus allen Nähten. In der Sozialberatung, in der es häufig um reine Aufklärungsarbeit und Informationsvermittlung geht, für die Ratsuchende nicht zwingend vor Ort erscheinen müssen, wenn sie z.B. ihr Studium noch gar nicht aufgenommen haben, möchte man zukünftig auch verstärkt auf digitale Formate zurückgreifen. Telefonische Beratung gab es da schon immer.

 

Also möchten Sie die digitalen Angebote auch in Zukunft beibehalten?

Jungnickel: Auf jeden Fall. Wir haben eine großartige Adaptionsbereitschaft, was die neuen Möglichkeiten durch die digitalen Medien angeht. Die Pandemie hat uns dahingehend einen Schub gegeben und gezeigt, dass Prozesse, die jahrelang nicht verändert wurden, gerne infrage gestellt und umgestaltet werden können. Unsere Online-Beratung wollen wir langfristig neu konzipieren, da wir hier von Anfragen regelrecht überflutet wurden. Wir definieren uns jedoch vor allem in der psychologischen Beratung nicht als klassische Online-Beratungsstelle und müssen daher schauen, wie wir die Leute von E-Mails schnellstmöglich auf die Telefon-, Video- oder persönliche Beratung vor Ort umstellen oder an passende und gute digitale Angebote weitervermitteln.

 

Haben Sie in diesem Zusammenhang schon einmal über den Einsatz von Chatbots nachgedacht, um die Berater*innen zu entlasten?

Jungnickel: Das ist für die psychologische Beratung völlig undenkbar. Ich würde mich als Ratsuchende*r nicht ernst genommen fühlen, wenn ich zukünftig von einer künstlichen Intelligenz durch eine Beratungssituation geführt werde. Das finde ich eher gruselig.

 

Also lieber keine Künstliche Intelligenz. Dann bleibe ich gespannt, was die Digitalisierung in Zukunft stattdessen für den Bereich BKSA bereithält. Apropos Zukunft: 2022 feiern wir unter dem Motto “Future Werk” das 100. Jubiläum das Kölner Studierendenwerks. Was wünschen Sie dem Werk zu diesem Anlass?

Jungnickel: Happy Birthday, altes Haus! Unverzagt soll das Werk sich mit einer großen Portion Heldenmut im Herzen den Herausforderungen der Zukunft und den notwendigen Veränderungen stellen und daneben Bewahrenswertes gegen den Angriff von trendigen Eintagsfliegen verteidigen. Also frisch ans Werk für die nächsten 100 Jahre.

Dr. Gabriele Jungnickel begann ihre Tätigkeit im Werk 1994 als Psychologische Beraterin und bis dahin einzige Frau in einem Team von Psychologen. 2008 übernahm sie die Leitung der Abteilung Beratung, Kinder & Soziale Angebote.

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Beratungen (alle, auch Online- und Kurzberatung)

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Onlineberatungen

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Stunden absoluter Zeitaufwand pro Monat in der Online-Beratung

+23,4% im Vergleich zu 2020 (23,5 Stunden)
+147% im Vergleich zu 2019 (11,75 Stunden)